Predigt „Queere Andacht“ 24.06.2023

2023-06-26 Sarah

CN Gewalt, Suizid

„Ihre Tochter hat heute wieder ein Kind geschlagen.“ Gut das höre ich mindestens ein mal die Woche, wenn ich meine Tochter aus der Kita abhole. Sie ist 2, da ist die Sprache noch nicht so ausgereizt, das man Konflikte mit Worten lösen kann. Wir gehen also nach Hause, setzen uns in Ruhe hin und ich frage sie, was passiert ist. „Der Erik hat mir das Feuerwehrauto weggenommen und ich wollte es wieder haben. Da habe ich ihn dann gehauen.“ „Kind, das hast du sehr gut gemacht. Zeig den Jungs, das man mit Mädchen nicht so umgehen kann. Ich bin stolz auf dich.“, denke ich mir, sage es aber nicht.

Die Gruppe im Kindergarten ist ein Beispiel, wie unsere Gesellschaft auch aussehen könnte. Es herrscht das Recht des Stärkeren. Die schwachen Kinder werden unterdrückt und müssen mit dem spielen, was niemand anderes haben möchte. Aber immer in der Gefahr, das ein anderes Kind es sich anders überlegt und jetzt genau dieses Spielzeug haben will und es kommt wieder zu einem Konflikt, der Notfalls auch mit Gewalt gelöst wird, wenn das schwächere Kind nicht nachgibt. Will ich in so einer Gesellschaft leben? Haben wir den Teil unserer Geschichte nicht schon längst überwunden?

Was mache ich jetzt mit meiner Tochter? In der Gruppe, in der sie sich da in der Kita befindet, war ihr Verhalten ja eigentlich angemessen. Es würde aber eine Gesellschaftsform manifestieren, in der ich nicht leben möchte. Also erkläre ich ihr das mit der Diplomatie „Hast du versucht mit Erik zu reden? Hast du ihm gesagt, das du das blöd findest? Ihr könnt doch teilen. Erst spielt er ein paar Minuten mit dem Auto und dann darfst du es haben.“ Ich denke, das ist etwas, das die meisten Eltern so sagen würden. Oder?

Leben wir wirklich das, was wir den Kindern beibringen? Wenn jemand zu mir ankommt und sich ungefragt mein Fahrrad nimmt, ist meine Reaktion ganz bestimmt nicht „Du darfst es jetzt 30 Minuten haben und dann bin ich wieder dran. Hab viel Spaß damit.“ Wir sagen unseren Kindern das eine und halten uns dann selber nicht dran?

Ich denke, bei Jesus war es ähnlich. Er hat uns die Gewaltfreiheit gepredigt. Er hat uns friedlichen Widerstand gezeigt. Und er ist auch mit gutem Beispiel voran gegangen. Was in einer idealen Welt auch super funktionieren würde. Leider leben wir aber nicht in dieser idealen Welt. Und keine Regel ohne Ausnahme.

Ich weiß nicht warum Jesus im Tempel, Krawall einer diplomatischen Lösung vorgezogen hat. Ich bin mir aber ziemlich sicher, das er seine Gründe dafür hatte.

Ein paar Jahre später hat sich die Gruppe in der Kita beruhigt und Konflikte werden in der Regel friedlich gelöst. „Ihre Tochter hat sich mit Erik geprügelt. Der Junge musste zum Arzt und hat eine leichte Gehirnerschütterung.“ Uff. Wir gehen also wieder nach Hause, setzen uns in Ruhe hin und ich frage sie, was passiert ist. „Der Erik hat mir den Ball weggenommen und wollte ihn mir nicht wieder geben. Als ich gesagt habe, das ich zu Frau Schneidereit gehe, hat er mich festgehalten und gehauen. Ich habe ihn dann zurück gehauen und geschubst. Da ist er dann gegen dem Baum gefallen.“ Unter Tränen sagt sie noch „Ich wollte nicht, das er sich so weh tut. Es tut mir ganz dolle leid. Ich habe mich auch schon bei ihm Entschuldigt.“

Was mache ich nun mit ihr? Ich habe ihr gesagt, das sie alles richtig gemacht hat.
„Wenn dich jemand angreift, darfst du dich wehren. Und zur Not darfst du dann auch zurück hauen und schubsen. Aber pass auf das du dabei nicht zu dolle machst. Du hast ja gesehen, was passieren kann“.

Das scheint sie am nächsten Tag in der Kita erzählt zu haben. Jedenfalls fand das die Erzieherin wohl nicht so toll und ich habe ein Gespräch mit ihr und der Teamleitung gewonnen.

Meiner Meinung nach haben wir alle ein Recht auf Verteidigung und wir dürfen uns im wehren. Im Notfall auch mit Gewalt. Aber Gewalt zieht immer noch mehr Gewalt nach sich und es eskaliert fröhlich vor sich hin. Das heißt, das wir regulierend eingreifen müssen, um eine Eskalation zu verhindern. Das Ziel sollte also immer sein so viel Gewalt wie nötig, aber so wenig wie möglich anzuwenden.

In der Geschichte mit meiner Tochter ging es um physische Gewalt. Einfach, weil das Ergebnis sofort sichtbar ist und auch Außenstehende es beobachten können. Bei der psychischen Gewalt ist das anders. Das Ergebnis dieser Gewaltform ist nach außen unsichtbar. Regelmäßig transfeindliche Rhetorik zu hören, zu sehen, das die Gesellschaft immer weiter nach rechts rückt, macht mir Angst. Jede Beleidigung, jede Diskriminierung, jedes Misgendern, das ich erlebe lässt mich schlecht fühlen. Und egal, wo ich hin gehe, es begegnet mir überall. Bei Menschen, die selber nicht betroffen sind, erlebe ich oft, das es noch herunter gespielt wird. „Ist doch bloß ein dummer Kommentar. Ignoriere es einfach.“ sind Ratschläge, die ich häufig bekomme. Ich würde es liebend gerne einfach ignorieren und nicht an mich heran lassen. Aber es geht nicht. Ich fange an an mir zu zweifeln und der Selbsthass wächst unaufhaltsam. Von Außen, aber sieht man das alles nicht.
Bei mir hat das bereits 2 Mal dazu geführt, das ich nach einem Suizidversuch auf der Intensivstation aufgewacht bin. Erst da ist das Ergebnis jahrelanger intensiver psychischer Gewalt sichtbar geworden. Also theoretisch, hätte man es da sehen können. Aber weißt du, was wirklich passiert ist? Ich wurde zum Täter gemacht. Mir wurde vorgeworfen, das ich nicht an meine Freunde und Familie denke und was ich ihnen damit antue. Was ich aber jeden fucking Tag erlebe und aushalten muss, wollte niemand hören. Da wird dann wieder weggeschaut und alles herunter gespielt.

Ich habe mittlerweile sehr viele Menschen kennen gelernt, denen es so wie mir geht. Und ich bin mir sicher, das auch heute, hier unter uns einige sind, die das auch kennen.

Was können wir tun, um auf das Ausmaß psychischer Gewalt aufmerksam zu machen? Welche Mittel haben wir um uns zu wehren? Wie viel Gegenwehr ist angemessen und wie viel ist zu viel? Und wer bestimmt das eigentlich?

Wie kann ich das eines Tages meiner Tochter erklären?

Ich weiß es nicht.

Amen